eine außerordentlich freundliche Rezension unseres Bandes „Eiapopeia im Prenzlberg“. Und wer am 24. September in der Nähe von Erfurt weilt, kann dort die Autorin mit einer Lesung erleben: im Haus Dachböden im Rahmen der „Herbstlese“.

Hier die Rezension von Christoph Schmitz-Scholemann in einer gekürzten Fassung:

MIT SOG-POTENTIAL

Das Buch hat Sog-Potential, es kann süchtig machen, denn es ist durchkomponiert und die einzelnen Geschichten sind es auch. Der Band versammelt 21 Erzählungen der Weimarer Schriftstellerin Anke Engelmann. Ein schönes Buch mit einem von Roland Berger geschaffenen Linolschnitt auf dem Schutzumschlag, gedruckt in 333 nummerierten Exemplaren. Schon äußerlich etwas für wahre Bücherfreunde.

Die Geschichten handeln von Menschen, liebenden und geliebten, alten und jungen, verzweifelten und gelassenen, traurigen und kranken. Jede der auftretenden Personen wird kenntlich durch die spezielle Lebenslage, in der wir sie antreffen, ob im Auto, bei der Arbeit oder beim Tanzen. Da ist eine Frau, der ein Bein amputiert wird und die dann mithilfe eines Pflegers doch den Walzer zurück ins Leben wagt (Prinzessin auf der Erbse). Da ist ein Mädchen, das von seinen Eltern zum Sonntagsspaziergang gezwungen wird (Eins, zwei, drei, vier Eckstein). Oder die Frau, die im Schlafsaal einer DDR-Wochenkrippe putzt und dabei – entgegen der Anweisung – weinende Kinder tröstet (Frau Woche). Die weibliche Perspektive ist vorherrschend, ohne dass man sich als männlicher Leser ausgeschlossen fühlt. 

Die Geschichten haben alle einen konkreten zeitlich und räumlich eingegrenzten Ort. Es sind keine Begebenheiten, die sich überall zutragen könnten. Die Außenwelt taucht nicht als Metaphernarrangement auf, es geht sehr konkret zu, es sind realistisch erzählte Geschichten. Das heißt auch: Es ist nicht immer schön da, wo diese Kurzgeschichten spielen. Die Dingwelt ist widerständig: Sei es in Gestalt eines Handys, der Elektrosäge eines Chirurgen, einer Raucherecke oder eines Druckluftnaglers. Die Orte der Handlungen sind auch politisch bestimmt: Wir befinden uns in Ostdeutschland, teils zu DDR-Zeiten, teils danach. Viele der Personen, von denen das Buch erzählt, sind in irgendeiner Weise von den Wirkungen des DDR-Systems gezeichnet. Zum Beispiel zwei Kinder im Jahre 1970, deren Mutter „zur Klärung eines Sachverhalts“ abgeholt wird (Du musst jetzt mal tot sein). Die Arbeit eines jungen Menschen im Möbelkombinat (Tom Waits wohnt nicht am Bitterfelder Weg). In Anke Engelmanns Geschichten – wie in der Wirklichkeit – ist die DDR nach der „Wende“ keineswegs verschwunden. Wohl hat sie als Staat aufgehört zu existieren. Aber das, was an ihr prägend war, wirkt weiter. Manchmal im Alltäglichen, wenn um die Weihnachtszeit 30 Jahre altes Lametta in einem Schuhkarton auftaucht (Schneealarm). Manchmal auch im Politischen: Da tritt ein ehemaliger NVA-Offizier auf, der in der Jetztzeit in die rechtsradikale Szene gewechselt ist (Schenzels Schatten), vielleicht nur als V-Mann? 

Anke Engelmann erzählt die Nöte und Freuden, Erlebnisse und Sehnsüchte ihrer Protagonisten „von innen“. Ihr Hauptaugenmerk gilt den Abdrücken, die das Geschehen im Gefühlsleben der Menschen hinterlässt: Verwirrung, Entsetzen, Schrecken, Schuldgefühle, Zauber, Belustigung, Stolz – also alle möglichen Gefühle, manchmal aber auch nur Sprachlosigkeit: So wenn vom gewaltsamen Tod einer Katze die Rede ist (Die Katze) oder von der grässlichen Entdeckung, dass ein naher Mensch offenbar einsam und verzweifelt gestorben ist und sein verwester Leichnam erst lange Zeit später gefunden wurde (Drei Assipunkte). 

Es sind beileibe nicht nur die negativ besetzten Gefühlslagen, die in knappen Sätzen, manchmal bis zur Atemlosigkeit verdichtet, zur Sprache kommen. Im Gegenteil: eine Art zugleich abgeklärten, romantischen und doch so liebenswürdig unbeholfenen jugendlichen Übermuts, eine allenfalls leicht melancholisch gefärbte Lebens- und Liebesneugier, gibt den Ton an. Und in Geschraubt, nicht genagelt lernen wir ein hochvergnügtes Paar kennen, das sich in der Zeit vor dem Mauerfall auf raffinierte Weise ein ganz schön unterhaltsames Leben zu machen versteht: Margot und Andy berichten in anziehend schnoddrigem Tonfall von ihrer einerseits klandestinen, andererseits ziemlich freien Unternehmerschaft: einer Immobilien-Renovierung für Angehörige der DDR-Oberschicht in Schwarzarbeit.

Kurz: ein abwechslungsreiches und zugleich anspruchsvolles Stück Literatur. Anke Engelmann erweist sich als eine Virtuosin im Genre der Kurzgeschichte. Mit scheinbar leichter Hand und wenigen Worten evoziert sie Bilder und Stimmungen und porträtiert Personen. Das Wichtigste an diesem Buch ist für mich aber das Vergnügen zu sehen, was gute Literatur kann: sie öffnet jenen geistig-emotionalen Raum des Menschlichen, den man in keinem Kino und auf keinem Bild der Welt zeigen, den Musik nicht erklingen lassen und Wissenschaft nicht in Zahlen und Begriffen wiedergeben kann, einen Raum, der zwischen Denken und Fühlen liegt, zwischen Bild und Tonfall, zwischen Wort und Ruf und den wir Menschen als einzige Lebewesen bewohnen können – der genuine Raum der Literatur. 

Anke Engelmann sagt das in der letzten Geschichte ihres Buchs (Der Bücherfresser) viel schöner: „Dann öffnet man ein Buch und Worte fallen heraus, beschwören Landschaften, Menschen, Erinnerungen. Das trägt einen wie ein Traum …“