Die Kusine
und andere Erzählungen
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Leseprobe
Ein spätes, aber schönes Debüt gedruckter Erzählungen. Peter Gugisch schreibt sich mit diesem Band sicher in eine Reihe mit Wolfgang Kohlhaase, Günther Rücker und ähnlichen begnadeten Erzählern.
Bibliothek West-Östlicher Legenden • No. 13 • 2008 • 2. Auflage 2013 • 148 Seiten · 12 x 20cm • Schutzumschlag mit einem Linolschnitt von Roland Berger • jede Auflage 333 numerierte Exemplare • ISBN 978-3-935194-26-6 • 15 Euro
Peter Gugisch arbeitete und schrieb vor allem für den Rundfunk. Leider hat er bisher noch keinen Nachfolger für diesen wunderbaren Band geschrieben – er lebt als Rentner in Berlin.
DIE LÜGE
Der kleine Lautsprecher zwischen den Fenstern zum Schulhof knackte leise (er räuspert sich, hatte der Musiklehrer einmal behauptet), und dann sagte eine wohltemperierte Stimme: Kollege Wenke, bitte zum Herrn Direktor. Das war eine höfliche Aufforderung, fast eine Einladung; nur wer das Ringelnatz-Gymnasium genau kannte, hörte den grollenden Unterton der freundlichen Worte. Hier stand eine unangenehme Aussprache bevor, denn in jedem anderen Fall hätte die Schulsekretärin knapp und etwas burschikos in ihr Mikrophon gesprochen: Kollege Wenke, zum Direx!
Konstantin Wenke saß am langen Lehrertisch und korri-gierte die Mathematikarbeiten der 12 b. Die Korrektur von Schülerarbeiten gehört zu den Pflichten der Lehrer, die von den meisten verabscheut werden. Ein Lehrer soll unterrichten und sich auf seinen Unterricht vorbereiten. Alles, was darüber hinaus geht – Klassenfahrten und Konferenzen, Hofdienst und eben auch die Durchsicht von Klassenarbeiten –, wird als Zumutung empfunden. Wenke aber korrigierte gern: Ich bin immer neugierig, ob jemand eine elegantere Lösung fin-det als ich, verkündete er.
Wenke unterrichtete Mathematik und Physik in den oberen Klassen. Er galt unumstritten als guter Lehrer. Die Schüler (und die Schülerinnen!) mochten ihn. Er war streng und gerecht. Er war humorvoll, manchmal auch sarkastisch, aber niemals zynisch. Er gehörte zu denen, an die man sich später, wenn die Schulzeit längst vorbei ist, gern erinnert. – Nicht ganz so unumstritten war seine Stellung unter den Kollegen. Er war freundlich und hilfsbereit, aber auf eine schwer zu fassende Weise unnahbar. Er sagte unumwunden seine Meinung, aber nicht immer wusste man, ob er die Sache ganz ernst nahm, um die eben gestritten wurde. Er war vor fünf Jahren von der Universität an das Ri-Gy gekommen (wie alle Abkürzungen war auch diese unausrottbar) und war gleich in eine heftige Auseinandersetzung geraten. Frau Mehlsand, Kunsterziehung und Deutsch, war nach den Sommerferien in die 10 b gegangen und hatte dort festgestellt, dass Kerstin B. (eine bislang brave und unauffällige Schülerin) mit einer sehr ungewöhnlichen Frisur erschienen war. Der Hinterkopf war kahl geschoren, vorn aber waren zwei Strähnen stehen geblieben, die – hennarot gefärbt – wie Mondsicheln ins Gesicht fielen. Der Anblick sollte provozieren – und Lena Mehlsand fiel prompt darauf herein. »Ich denke«, sagte sie dozierend, »dass unser ästhetisches Empfinden sich zuvörderst« (sie sagte wirklich zuvörderst!) »in unserem eigenen Erscheinungsbild äußern sollte. Hier hat der Coiffeur offenbar gesündigt.« – Kerstin B. (so bezeugen die Mitschüler übereinstimmend) stand artig auf, warf die Mondsicheln mit einer Kopfbewegung zur Seite und sagte sehr ruhig: »Frau Mehlsand, ich achte Ihren kunsthistorischen Sachverstand. Als Friseuse aber wären Sie eine Fehlbesetzung.« – Lena Mehlsand spürte die erbarmungslosen Blicke der Klasse auf ihrem dünnen, sorgfältig gescheitelten Haar, aber sie war ein beherzte Frau, und so entgegnete sie: »Ihre Frisur beleidigt mein Schönheitsgefühl.« – Darauf Kerstin: »Vielleicht sollte ich eine Mütze aufsetzen?« – Und noch einmal Mehlsand: »Das wäre die kleine Lösung; aber immerhin.« – Der Vorgang wäre unbemerkt geblieben, wenn nicht die Mädchen der 10 b am nächsten Morgen, einem sonnigen und warmen Septembertag, ausnahmslos mit winterlichen Wollmützen erschienen wären. – So kam der Fall vors Lehrerkollegium. Er wurde heftig und durchaus kontrovers erörtert. Jeder wollte (und das war ziemlich ungewöhnlich) nicht nur eine Meinung zur Sache, sondern den eigenen, unerschütterlichen Standpunkt kund tun. Nur Wenke schwieg. Er sah auf seinen Schreibblock, der sich allmählich mit sorgfältig gezeichneten geometrischen Figuren füllte, und blickte erst auf, als ihn der Direktor um seine Meinung bat: »Was denkt unser junger Kollege über diese Angelegenheit?« – »Ich meine«, sagte Wenke ohne Zögern, »dass es einer Schülerin nicht zusteht, die Frisur ihrer Lehrerin zu bewerten. Wenn sie das in der Pause tut, entzieht es sich unserer Kenntnis. Im Unterricht aber ist es nicht hinnehmbar. Im übrigen«, fügte er hinzu, »halte ich Frisurenfragen für unwichtig. Wir sollten alle, Lehrer und Schüler, nach gleichen Werten streben. Die unterschiedlichen Haartrachten tun dabei nichts zur Sache.«
Die Runde schwieg irritiert. Offenbar hatte der Neuling die Diskussion nicht verstanden. Nicht eine Schülerin, sondern die Lehrerin war als Richterin über Zopf und Scheitel aufgetreten. Das war doch ein ganz anderer Sachverhalt. Wiederum: Der Schlusssatz war so formuliert, dass er auch auf diesen, den umgekehrten Fall zutraf. – Wenke sah wieder auf seinen Block. In der Lehrerrunde aber hatte plötzlich niemand mehr Lust, den casus belli weiter zu erörtern. War nicht alles gesagt? Und war es nicht wirklich ein Rückfall in alte, autoritäre Zeiten, dass man sich über die Haarmode einer Schülerin ereiferte? – Der Direktor schlug eine Versammlungspause vor. Danach sprach man über ganz andere Dinge. Auch die Mützen-Aktion wurde kommentarlos beendet, weil sie kommentarlos toleriert wurde.
Für Wenke verband sich dieser erste Auftritt im Lehrer-kollegium mit einem kleinen, ganz beiläufigen Erlebnis. Als sein Blick von den Gesichtern der Kollegen zu seinem Block zurückkehrte, sah er einen Augenblick lang das Gesicht, nein, eigentlich nur Mund und Kinn einer Kollegin, die seine Ausführungen offenbar amüsiert und ein wenig spöttisch zur Kenntnis nahm.
»Wer ist die kleine Blonde?« fragte er im Hinausgehen, und Noffke, der andere Mathelehrer, antwortete: »Das ist Madame Le Soleil – so nennen sie die Schüler«, fügte er hinzu, »sonst heißt sie Beate Sonne. Deutsch und Französisch.« – Wenke fühlte sich von der fremden Kollegin verstanden (oder musste er sagen: ertappt?), und obwohl die Begebenheit zwischen ihnen nie zur Sprache kam, konnte er sich noch immer genau an sie erinnern.
Jetzt packte Wenke die Stifte und den Kalender ein – man konnte nie wissen. »Haste was ausgefressen?« fragte Huebler,- der neben ihm saß. »Im Gegenteil«, grinste Wenke, »die Schweden wollen nun doch einen Nobelpreis für Mathematik stiften; der Direx will mich für die Auswahlkommission vorschlagen.«